Schimpftiraden, Redeschwälle und ein Whatsapp-Roman

Ein Lektüretipp von Frank Heibert

Was heißt es, heutzutage in Europa nicht so ganz dem Mainstream zu genügen – sei es wegen sprachlicher, politischer oder sexueller Auffälligkeiten? Darum geht es in dem Roman Leichte Sprache der spanischen Autorin Cristina Morales, die dafür zusammen mit ihrer Übersetzerin Friederike von Criegern den Internationalen Literaturpreis 2022 bekommen hat: Vier offiziell „geistig behinderte“ Frauen im heutigen Barcelona  ergreifen das Wort. Jede von ihnen äußert sich in ihrer eigenen Sprachform:  Angels schreibt in Leichter Sprache einen WhatsApp-Roman über ihr Leben, Nati ergießt Schimpftiraden über die faschistischen Machos und Machas, Patricia überschwemmt das für sie zuständige Gericht mit manisch detaillierten Redeschwällen (wir bekommen das als Gerichtsprotokoll serviert), und die sexuell hyperaktive Marga wird Hausbesetzerin und berichtet von dem Hickhack unter den Punk-Anarchos.

Das ist hoch unterhaltsam, zuweilen anstrengend und immer kunstvoll durchkomponiert. Dabei kriegen alle ihr Fett weg, die „Bösen“ wie die „Guten“, und Friederike von Criegern erfüllt in ihrer Übersetzung alle vier Tonlagen gewitzt und beherzt mit Leben.

Ich war so wütend, wie man sein muss, um über das Drehkreuz der Metro zu springen, und ich fühlte mich wie eine bastardistische Guerillera, als ich an der Plaza España ausstieg. Auf der Fahrt hatten mich alle angestarrt, weil ich im Nachthemd und mit geschlossenen Schiebetüren unterwegs war, allerdings ist anstarren übertrieben, denn in der Metro starren alle nur auf ihr Handy und sonst sehen sie gar nichts. Ich würde also sagen, dass sie mich aus dem Augenwinkel angeschaut haben, aber ich schlug meine Beine übereinander und klimperte mit den Schlüsseln, mehr hatte ich nicht dabei. Sie hätten es verdient, dass ich sie mit einem Was zur Hölle glotzt ihr so anrüffele, beugt den Nacken wieder unter euer Joch und pflügt weiter über das Display von eurem Handy!, aber wenn du schwarzfährst, musst du unauffällig bleiben, sonst taucht der Typ vom Sicherheitsdienst mit seiner Hündin auf, und der ruft dann den Kontrolleur und der die Polizei und dann darfst du 100 Euro latzen, und wenn du dich weigerst, deinen Ausweis zu zeigen, wirst du verprügelt und keiner von denen, die sich durch ihre Displays pflügen, rührt einen Finger, allerhöchstens heben sie das Handy und filmen journalistisch, heldenhaft und denunzierend den Übergriff, um das Video ins Internet zu stellen, während du dich auf dem Boden windest.

Angaben zum Buch

Cristina Morales
Leichte Sprache
Roman – Aus dem Spanischen von Friederike von Criegern
Matthes & Seitz 2022 · 427 Seiten · 25 Euro
ISBN: 978-3-7518-0066-2

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Das Leben schlägt zurück

Ein Lektüretipp von Herwig Finkeldey

Julia Francks Welten auseinander bekam ich geschenkt, und ich las es unter der Vorstellung, leicht zu konsumierende Saisonware vor mir zu haben. Aber weit gefehlt. Dieses Buch, das man dem autofiktionalen Erzählen zuordnen kann, schenkt dem Leser nichts. „Autobiographisches Schreiben. Das fand ich abwegig.“ Damit formuliert die Autorin die Vorbehalte gegen diese Form des Schreibens gleich selbst.

Und dann schildert Julia Franck, wie sie sich von einer belastenden Familienkonstellation emanzipiert. Wichtig ist ihr dabei, dass sie ihre Familie nicht als schuldig empfindet. Diese Familie ist vielmehr durch die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts heimatlos geworden und konnte deswegen selbst niemandem eine Heimat sein. Julia Francks Buch kommt ganz ohne Anklage aus – wenn sie auch während  ihrer Kindheit teilweise durch die Mutter vernachlässigt wurde.

Die Ereignisse und Begebenheiten in meiner Familie ließen sich literarisch kaum erzählen, so unwahrscheinlich und grell waren sie. Ich würde warten wollen, bis meine Großmutter gestorben ist, aus Respekt vor ihrem Schmerz.

Das Buch hat sie in der Tat nach dem Tod der Großmutter geschrieben. Die Befreiung scheint Julia Franck über die Literatur zu gelingen. Aber das Leben schlägt zurück. Die Passagen der Trauer über eine verlorene Liebe sind die schriftstellerisch stärksten in diesem erstaunlichen Buch.

Angaben zum Buch

Julia Franck
Welten auseinander
Roman
S. Fischer Verlag 2021 · 368 Seiten · 23 Euro
ISBN: 978-3-1000-2438-1

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Alltäglich und existenziell

Ein Lektüretipp von Sieglinde Geisel

Vor einem Jahr ist Tanja Schwarz‘ Erzählband In neuem Licht erschienen, ohne dass die Leitmedien davon Notiz genommen hätten. In jeder der zwölf Erzählungen steckt ein Roman, so vielschichtig sind die Lebensgeschichten, in die wir einen Blick werfen. Wir begegnen Migranten und Flüchtlingen, pubertierenden Kindern und verunsicherten Eltern, oder einer Schwangeren, deren Mann das Kind nicht will. Es sind Szenen aus unserer Welt, alltäglich und existenziell, erlebt aus dezidiert weiblicher Sicht und auf eine Weise erzählt, die zum genauen Hinschauen einlädt.

Da liegt Lina. Schläft unter wimpernlosen, wie zugeschmolzenen Augen. Liegt in ihrem Bettchen, auf dem Rücken, die zu Fäusten geballten Hände beidseits neben dem Kopf, der seltam weit zur Seite zeigt. Ein ganz neuer Mensch, meine Tochter: Füllt mit ihrer Wärme und Kleinheit das ansonsten nichtssagende Zimmer.

Angaben zum Buch

Tanja Schwarz
In neuem Licht
Erzählungen
Hanserblau 2021 · 272 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3-4462-7113-5

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Eiserne Brücken und Herzen

Ein Lektüretipp von Anselm Bühling

Berlin 1923: Viktor Schklowski ist aus politischen Gründen aus Sowjetrussland geflohen und fristet ein Emigrantendasein in der deutschen Hauptstadt. Als Autor fühlt er sich in einem Vakuum. Als Autonarr frustrieren ihn die Elektrotaxis, die sich nicht wieder flottmachen lassen, wenn die Batterie zum Erliegen gekommen ist.

In dieser Situation entsteht das Buch ZOO. Briefe nicht über Liebe oder die dritte Heloise. Es ist eine Liebesgeschichte und zugleich das Protokoll einer Geschichte, die anstelle einer Liebe entsteht. Es erzählt vom Misslingen der Begegnung zwischen zwei Menschen und zwei Kulturen.

Am Ende steht ein Brief, in dem der politische Flüchtling seinen Verfolgern Abbitte leistet und darum ersucht, in Gnaden wieder aufgenommen zu werden. Dieser Brief hat dem Autor tatsächlich den Rückweg geebnet. Aber nicht er soll als letzter gelesen werden, sondern ein anderer, der im Buch durchgestrichen ist.

Olga Radetzkaja hat Schklowskis assoziative Sprache, die scheinbar Unverbundenes nebeneinander stellt, ins Deutsche gebracht. Und hier gelingt die Begegnung.

Neunundneunzig Jahre nach seinem Erscheinen ist dieses kleine Buch ganz erstaunlich frisch. Es regt an, ohne zu bedrücken; man kann es in finsteren Zeiten in einen hellen Sommer mitnehmen.

Auf dem nächtlichen Rückweg von Dir habe ich oft zwölf eiserne Brücken unterquert.

Man geht, man singt vor sich hin. Man denkt nach, warum dem Leben zu Deutschlands eisernem Herzen, dem Gleisdreieck, und zu Hamburgs eisernen Toren nur öde Konfektion einfällt – Häuser wie Koffer und Trambahnen, in denen man nirgendwohin kommt. Ich gehe, ich gehe zurück.

Angaben zum Buch

Viktor Schklowski
ZOO. Briefe nicht über Liebe, oder die dritte Heloise.
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja
Nachwort von Marcel Bayer
Guggolz Verlag 2022 · 189 Seiten · 22 Euro
ISBN: 978-3-945370-34-6

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Bildnachweis:
Beitragsbild: andy, Hot Summer Night in Deep Cove, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons
Buchcover: Verlage

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Von Redaktion

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